"Diskriminierungsrisiken & Diskriminierungsschutz  für geflüchtete Menschen in NRW"

Kurzfassung

Die Praxisstudie „Diskriminierungsrisiken & Diskriminierungsschutz für geflüchtete Menschen in NRW“ ist im Rahmen des „Demokratie leben!“-Modellprojekts „Kompass F - Kompetenzentwicklung im Diskriminierungsschutz für Flüchtlinge“ entstanden. Das auf drei Jahre ausgerichtete Projekt entwickelt exemplarisch mit Einrichtungen der Geflüchtetenhilfe des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW systematisiertes Anwendungswissen sowie Interventionsstrategien zum Abbau von Diskriminierungen geflüchteter Menschen.

Ziel der Studie ist es, mehr und genauere Erkenntnisse über das Erleben von Diskriminierung geflüchteter Menschen zu erhalten, um auf deren Basis praxisnahe Instrumente für den Diskriminierungsschutz für Geflüchtete zu entwickeln. Dazu werden Erkenntnisse zu Diskriminierungsrisiken,‐felder und ‐formen geflüchteter Menschen in NRW beim Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Wohnen, Arbeit, Bildung und gesundheitliche Versorgung erhoben, sowohl aus der Perspektive geflüchteter Menschen als auch der von Fachkräften der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten. Geführt wurden 10 Betroffenen-Interviews mit 19 geflüchteten Menschen unterschiedlicher Herkunftsregionen und Diskriminierungs-dimensionen, sowie 11 Interviews mit 24 Fachkräften verschiedener Dienste und Zielgruppenausrichtung. An der Online-Umfrage nahmen 83 Fachkräfte der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten, vornehmlich aus Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW teil. (Download Kurzfassung)

2. Diskriminierungsrisiken- und Schutz aus der Perspektive der Fachkräfte

Im Folgenden werden die Ergebnisse aus der Befragung zu Diskriminierungsrisiken- und Schutz für Geflüchtete in NRW aus Sicht der Fachkräfte zusammengefasst. In der Online Umfrage wurden folgende diskriminierungsrelevante Lebensbereiche benannt:

Der Bereich Wohnen

Der Zugang zu angemessenem Wohnraum für geflüchtete Menschen wird von Fachkräften als besonders diskriminierungsrelevant eingeschätzt:

  • Viele Geflüchtete treffen auf offene Diskriminierung auf dem privaten Wohnungsmarkt

  • Viele Asylberechtigte leben nach wie vor in Übergangswohnheimen, In den verschiedenen Unterbringungs­formen herrschen z.T. menschenunwürdige Unterbringung bis hin zu Diskriminierungen auf unterschiedlichen Ebenen, zB. Der Gefährdung von Frauen und Kindern.

  • Bei vielen vulnerablen Gruppen[1]  findet ihre Schutzwürdigkeit häufig bei der Unterbringung nicht hinreichend Beachtung.

Konstrukt Bleibeperspektive/Bleiberecht

  • Das Konstrukt ‚Bleibeperspektive‘[2] stellt eine prägende Dimension in der Arbeit mit Geflüchteten Menschen dar:

  • Dadurch wird den betroffenen Geflüchteten der Zugang zu zentralen Ressourcen wie Sprach- und Arbeitsmarktförderung erschwert.

  • Es findet manchmal rechtswidrig auch Anwendung in Regelstrukturen wie z.B. im Gesundheitswesen.

  • Das Konstrukt schafft ein neues diskriminierendes Raster zur Einteilung von geflüchteten Menschen in Deutschland.

Regelstrukturen/Behörden/Sprachmittlung

Ämter und Behörden werden als zweithäufigstes Diskriminierungsfeld benannt:

  • Der Ermessenspielraum von Behördenmitarbeiter*innen ermöglicht diskriminierende Praxen und verschleiert diese gleichzeitig.

  • Der Umgang mit Geflüchteten im Amt hängt davon ab, ob eine (deutschsprechende) Begleitperson dabei ist. Klient*innen werden oft von Sachbearbeiter*innen geduzt.

  • Eine zentrale Ressource zur angemessenen Versorgung von geflüchteten Menschen wäre eine professionelle Sprachmittlung. Beklagt wird, dass es diesbezüglich an Standards fehlt.

Vulnerable Gruppe minderjährige Geflüchtete

Kinder und Jugendliche in Sammel­unter­künften, als auch unbegleitete minderjährige Geflüchtete sind insbesondere Diskriminierungsrisiken ausgesetzt:

  • Die Betreuungssituation von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten ist häufig nicht auf die Zielgruppe ausgerichtet, z.B. der Umgang mit Traumata.

  • Es wird besondere Kritik an der Praxis, männliche unbegleitete minderjährige Geflüchtete mit Erreichen der Volljährigkeit in Männerwohnheimen unterzubringen, obwohl es nicht ihrem Entwicklungsstand entspricht.

  • Existenz paternalistischer Beziehungen von Vormünder*innen und Helfer*innen zu unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten.

  • Abhängigkeiten

  • Durch die Abhängigkeit der Geflüchteten von Hilfestrukturen, entstehen in vielen Lebensbereichen ausbeuterische Verhältnisse, wie z.B. überhöhte Honorare durch Anwält*innen, die Asylverfahren betreuen oder Matratzenvermietungen.

Umgang mit Diskriminierungen

  • Nach Einschätzung der Fachkräfte setzen sich Geflüchtete häufig nicht gegen Diskriminierungen zur Wehr, aus Angst vor persönlichen negativen Konsequenzen.

Rahmenbedingungen zur Bearbeitung von Diskriminierungen in der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten – Barrieren und Interventionsformen

  • Fachkräfte sehen sich in ihrer Arbeit in einem hoch politisierten gesellschaftlichen Kontext. Negative Diskurse wirken sich auf die Wahrnehmung von Geflüchteten und somit auf die alltägliche Praxis aus.

  • Die Kapazitäten von Beratungsstellen sind überwiegend allein durch Aufenthaltssicherung ausgelastet, weswegen Diskriminierungsfälle seltener bearbeitet werden.

  • Fachkräfte entscheiden sich häufig gegen eine Intervention im Diskriminierungsfall durch z.B. Behördenmitarbeiter*innen, da sie eine negative Auswirkung auf den Klient*in bzw. weitere Klient*innen befürchten.

3. Diskriminierungserfahrungen aus Perspektive der geflüchteten Menschen

„Deutschland sollte über die Leute, die in Heimen wohnen, wirklich etwas machen“ – Diskriminierungsrisiken in den verschiedenen Unterbringungsformen für Geflüchtete

Geflüchtete erleben den Wohnraum als einen Erfahrungs- und Begegnungsraum, der in erheblichem Maße von Abhängigkeiten, Weisungsbe­fugnissen, dem Verlust an Privatheit und von konkreten Diskriminierungserfahrungen geprägt ist:

  • Das Risiko von Übergriffen, Herabsetzungen und Willkür bis hin zu Grundrechts­verletzungen durch das Personal sind ein struktureller Bestandteil von Sammel­unterkünften.

  • Die von der Mehrheitsgesellschaft abgesonderte Unterbringung einer Vielzahl von Personen auf engstem Raum produziert zudem fast zwangsläufig Aggressionen und führt auch zu Konflikten zwischen Bewohner*innen.

  • Das Diskriminierungsrisiko für besonders vulnerable Gruppen, insbesondere für LSBTQ-Geflüchtete ist in Sammelunterkünften durch die erzwungene Nähe zu anderen Geflüchteten besonders hoch.

  • In allen Berichten zur Heimunterbringung unbegleiteter minderjährige Geflüchteter stehen Erfahrungen von verweigerter Kommunikation, Willkür und Machtmissbrauch durch Betreuer*innen im Vordergrund.

Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt

  • Geflüchtete thematisieren verdeckte und direkte Diskriminierungen durch Vermieter*innen. Rassistische Zuschreibungen führen dazu, dass es erst gar nicht zu einer Kontaktaufnahme kommt.

  • Geflüchtete weisen auf die Abhängigkeit von deutschen Unterstützer*innen bei der Wohnungssuche hin ; ohne sie bestehen kaum Chancen auf eine erfolgreiche Anmietung.

Freizeitgestaltung und öffentlicher Raum

Diskriminierungserfahrungen erleben Geflüchtete im öffentlichen Raum von Herablassendem Verhalten bis hin zur offenen Feindseligkeit:

  • Besonders junge Männer empfinden es als herabsetzend und ausgrenzend, wenn Angehörige der Mehrheitsgesellschaft Begegnungen bewusst vermeiden.

  • Im Zusammenhang mit der Herkunftssprache spüren Geflüchtete verdächtigende Blicke und sind offenen Anfeindungen ausgesetzt.

  • Junge männliche Geflüchtete erleben häufig racial profiling durch Polizei und private Sicherheitskräfte.

„You don’t get to decide anything“ – Zukunftssicherheit, Lebensplanung und Behördenhandeln

Für die Lebensplanung Geflüchteter steht die aufenthaltsrechtliche Unsicherheit im Mittelpunkt und die Abhängigkeit von Behördenhandeln und den individuellen, teils willkürlichen Entscheidungen einzelner Behördenmit­arbeiter*innen:

  • Regelhafte diskriminierende Gesetzesvorgaben betreffen insbesondere die Bereiche Arbeit und Berufsperspektiven.

  • Ungleiche Zugangsvoraussetzungen und Diskriminierungen bei Auswahl­verfahren von Ausbildungs-und Arbeitsstellen, insbesondere aufgrund von Sprache.

„In a way you get accustomed to it, and on the other hand you don’t.“ – Wahrnehmung und Wirkung rassistischer Diskriminierung und der Umgang damit

Diskriminierungen werden von der Mehrzahl der interviewten Personen als ein Kontinuum erlebt, das alle zentralen Lebensbereiche betrifft; rassistische Diskriminierungen werden dabei als nahezu unausweichlich erlebt.

  • Das schnelle Erlernen der deutschen Sprache beschreiben Geflüchtete als Strategie zur Abwehr von struktureller und institutioneller Diskriminierung und zur Erlangung von Unabhängigkeit.

  • Geflüchtete wünschen sich zur Abwehr von Diskriminierung politische, geschichtliche und transkulturelle Bildung für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, eigene Empowerment-Räume sowie Bildungs- und Informationsangebote bezüglich der eigenen Rechte.

4. Auswertung und Schlussfolgerungen

Die Analyse der quantitativen und qualitativen Erhebungen der Praxisstudie zeigt, dass geflüchtete Menschen in NRW erheblichen Diskriminierungsrisiken ausgesetzt sind. Betroffen sind alle Lebensbereiche von Geflüchteten. Viele der Bereiche sind staatlich reguliert, da die Versorgung insbesondere während des Asylverfahren durch Leistungen auf der Grundlage des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Sozialgesetzbuches gewährleistet wird.
Diskriminierung trifft Geflüchtete in NRW in allen Lebensbereichen und Formen. Vulnerable Gruppen sind besonders gefährdet. Gesellschaftliche Diskurse befördern die Anfälligkeit für Diskriminierung. 

  • Zentrale Unterbringung und Versorgung bergen verstärkt Diskriminierungsrisiken und erhöhen die psychische Belastung geflüchteter Menschen.

  •  Die starke Reglementierung des Arbeitsmarktzugangs hat negativ Konsequenzen für die ökonomische Lebensplanung von geflüchteten Menschen.

  • Die segregierte Versorgung von Geflüchteten erhöht Abhängigkeiten von Hilfesystemen, die ein hohes Missbrauchsrisiko beinhalten.

  • Fachkräfte befinden sich im Rollenkonflikt zwischen anwaltlicher Beratung und abhängig*e/r Akteur*in im Asylsystem.

  •  Fachkräfte und Betroffene befürchten eine aufenthaltsrechtliche Viktimisierung, wenn sie gegen institutionelle Diskriminierung vorgehen.

  • Eigene institutionelle Abhängigkeiten erschweren Fachkräften strukturelle Interventionen gegen Diskriminierungen auf lokaler Ebene.

Ausblick

Nach Ansicht von Kompass F sollte sowohl der präventive Diskriminierungsschutz als auch der reaktive Diskriminierungsschutz gestärkt werden.

Der präventive Diskriminierungsschutz bedeutet die Arbeit von Einrichtungen der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten so auszurichten, dass sie diskriminierungs­sensibel und rassismuskritisch arbeiten kann. Dazu gehören z.B. Die Entwicklung eines Begriffs von Rassismus und Diskriminierung/(rassismuskritische) Weiterbildung, Parteilichkeit als Prinzip der eigenen (Beratungs-)Arbeit oder die Festlegung der Positionierung als Fachkraft und Einrichtung.

Der reaktive Diskriminierungsschutz umfasst die Bandbreite der Analyse und Interventionen sowohl im Diskriminierungsfall als auch von diskriminierenden Konstellationen, die institutionell angelegt sind. Diese umfasst z.B. Die Klärung von Zuständigkeit zur Bearbeitung von Diskriminierungen – Transparenz bezüglich des Auftrages schaffen, die Aneignung von Kenntnissen des rechtlichen Diskriminierungsschutzes, sowie Menschenrechtlichen Schutz zu kennen und anzuwenden.

Im weiteren Verlauf des Projektes Kompass F wird darauf aufbauend folgendes erarbeitet:

  • Eine Handreichung zu „Praxisnahe juristische Interventionen zum menschen-rechtlichen Diskriminierungsschutz für Geflüchtete“ und „Diskriminierungsrisiken und Interventionen im Diskriminierungsfall in der Arbeit mit Geflüchteten – Prävention und Interventionen“.

  • Das Projekt entwickelt für unterschiedliche Zielgruppen folgende Qualifizierungsangebote:

    • "Rassismuskritik und Diskriminierungsschutz in der Arbeit mit geflüchteten Menschen – Grundlagen und Kompetenzen für die Beratungspraxis" für Fachkräfte in der sozialen Arbeit mit Geflüchteten.

    • Stärkung von Flüchtlingsinitiativen zu den Themen Rassismuskritische Arbeit mit Geflüchteten, Reaktion auf Rassismus/Diskriminierung und ausgrenzende Diskurse.

    • Empowermentangebote‚ Handlungsmöglichkeiten gegen Diskriminierung‘ für Geflüchtete.

    • Die Projekterkenntnisse hinsichtlich des präventiven und reaktiven Diskriminierungsschutzes werden in einer Online-Toolbox: „Strukturelle und institutionelle Interventionen bei Diskriminierungen in der Arbeit mit Geflüchteten“ als Datenbank gebündelt.

© ARIC-NRW e.V., August 2018, Lisa-Marie Rüther, Hartmut Reiners
http://www.kompass-f.dekompassf@aric-nrw.de Tel.. 0221 310 97 260

 

[1] Frauen, Familien, Schwangere, Kinder, LSBTQ, Menschen mit Behinderung gem. Gewaltschutzkonzept für Flüchtlingseinrichtungen des Landes Nordrhein-Westfalen (LGSK NRW), Art. 21 EU-Aufnahmerichtlinie

[2] Menschen, die aus Herkunftsländern mit einer Schutzquote von über 50 Prozent kommen, haben eine gute Bleibeperspektive. 2017 trifft dies auf die Herkunftsländer Eritrea, Irak, Iran, Syrien und Somalia zu. Welche Herkunftsländer das Kriterium Schutzquote (>/= 50 %) erfüllen, wird halbjährlich festgelegt.“